prost, opa! – ein essensbiographischer nachruf

prost, opa! – ein essensbiographischer nachruf


dieser blogeintrag ist in memoriam meines großvaters, der heute seinen 102. geburtstag feiern würde. er ist vorigen mai gestorben.

kurz danach war ich bei einem symposium zum thema selbst- und fremdbestimmung des essens (übrigens vom selben veranstalter wir das heurige symposium zum wert von lebensmitteln, siehe eintrag vom 6. juni). während ich lauschend und denkend im auditorium saß, ist mir aufgefallen, dass mein großvater und seine essbiografie fremd- und selbstbestimmung des essens sehr schön widerspiegeln.

essens- und kochmäßig hat mich ja die oma stark geprägt, die ihr ja mittlerweile vom foto schon recht gut kennt. die lebensfreude habe ich eindeutig vom opa gelernt! er war ein ganz wichtiger mensch für mich. meine eltern waren zu meiner vorkindergartenzeit beide berufstätig, die oma war zu hause, und der opa und ich waren auf achse. stundenlang. im selbstgebastelten ziehwagerl oder im geliebten zwoaradla saß ich, der opa schob oder zog. immer wieder landeten wir im wirtshaus. oder beim karteln bei herrn s. „nur mehr ein bummerl!“ ist seither mein inbegriff für ewigkeit! dazu gab’s bei herrn s. zähe soletti und einen stinkenden pudel. ok, das gehört nicht zu den highlights. dagegen schon: von der lokalen bäckerei (heute zu haubi’s großgeworden) die alten briochestriezel holen, um sie an die enten und puten am haubenberger-teich zu verfüttern. und auf der fahrt dorthin alle rosinen herauspicken und selber essen.

aber ich wollte ja eine essbiografie schreiben! der großvater wurde 1911 als ältester von vier buben in einem dorf im niederösterreichischen mostviertel geboren. kindheit, jugend und frühes erwachsenenalter waren geprägt vom mangel. viele seiner lausbubenstreiche, die er uns als kinder immer und immer wieder erzählen musste, handeln vom lebensmitteldiebstahl: kirschen hier, äpfel dort, wenn man erwischt wurde, gab’s schläge und scheitlknien. butter oder gar fleisch hingegen gab’s nur zu feiertagen. mit ungefähr 14 gaben ihn seine eltern als knecht zu einem bauern. jeder hungrige magen weniger zu hause war eine erleichterung. nur zum wochenende durfte er heim. bei diesem und allen folgenden bauern gab es einfaches essen: viele erdäpfel, viele bohnen, brot, viel gemüse, obst, wenn’s reif war. diese einfache, regionale, saisonale ernährung sollte der opa sein ganzes leben lang beibehalten. nur mit einem konnte man ihn bis zum schluss jagen: most. weil most standardgetränk bei den bauern war – das brunnenwasser war oft nicht sauber genug – und immer hantig, oft essig und häufig schimmlig. seine ernährung war also weitgehend fremdbestimmt, nicht so sein leben: wenn man mit ihm in sein heimatdorf fuhr, behauptete er bei jedem bauernhaus im umkreis von zehn kilometern, fensterln gewesen zu sein …

28 war der großvater, als der zweite weltkrieg begann. aus der zeit weiß ich verhältnismäßig wenig, seine erzählungen waren nie chronologisch, mitunter so spektakulär, dass wir uns fragen mussten, ob sie überhaupt wahr sein könnten, und immer überdeckt von der dicken haut, die er sich wachsen hatte lassen, um vor allem seelisch zu überleben. dass die kriegsjahre mangeljahre waren, dass die ernährung ganz besonders fremdbestimmt war, daran ist aber kein zweifel. die wärmsten worte fand der opa immer für jene bauern, die ihn auf der reise nach hause nach der gefangenschaft in ihre stuben baten und aufpäppelten. bis zu seinem tod erwähnte er immer und immer wieder, was da für feine menschen darunter gewesen wären.

nach dem krieg wurde geheiratet und eine familie gegründet. der großvater, stets arbeitsam und ein tausendsassa, wurde teil des wirtschaftsaufschwungs der nachkriegszeit: man konnte sich ein feines, angenehmes leben leisten. essen wurde – zumindest finanziell – selbstbestimmt. interessanterweise schlug sich das aber kaum in der ernährung nieder. möglicherweise ist es meine subjektive kindliche erinnerung, aber bis auf die obligatorische braunschweiger, die der opa oft zur abendjause aß, gab’s fleisch und wurst im haushalt meiner großeltern weiterhin relativ selten. die oma hatte ein hausgartl und kochte, was darin reif war: kochsalat mit erbsen, eingebrannten kohlrabi, dillsoße mit semmelknödel, … das waren als kind meine lieblingsspeisen! linsen, erbsen, bohnen gab’s auch oft (linsen mit semmelknödel war meine überhaupt-lieblingsspeise!).

interessant finde ich auch, wie der großvater gegessen hat. ich glaube, behaupten zu können, dass er niemals in seinem leben hinterfragt hat, warum er etwas aß. er aß alles, war nie heikel, hatte wohl seine lieblings- und nicht-so-lieblingsspeisen. aber gegessen wurde, was auf den tisch kam. und er konnte genießen, oh ja! mit größtem vergnügen verspeiste er zu festtagen ein bratl, und da die schwartln aller drei enkelkinder zusätzlich zu seinen eigenen, und hinten nach eine gallige cremetorte. mit unhinterfragter selbstverständlichkeit verweigerte er dann am abend das nachtmahl, aß nur ein paar “zweschpm” oder eine „bamarantsche“, weil “i hob do koan hunga noch dem mittagessn!”. er liebte den alkoholgenuss, ohne jemals gefahr gelaufen zu sein, zum alkoholiker zu werden. sein lieblingsgetränk war roter (sic!) spritzer. auch das eine form der selbstbestimmung, finde ich. wer trinkt schon roten spritzer? der großvater verstand es, zu feiern! jede gesellschaft konnte sich glücklich schätzen, ihn zu gast zu haben. er scherzte und tanzte und witzelte und unterhielt stets die ganze runde. entsprechend oft wurde er eingeladen. bis zu seinem zirka 90er war es keine seltenheit, dass er spätnachts mit einem ordentlichen „duliöh“ heimkam. er hätte doch nur „kindermüchgaugau“ getrunken, erklärte er uns einmal, als wir ihm beim ins-bett-gehen helfen mussten (die motorik war dann doch nicht mehr die eines 30-jährigen). und auch diese form der maßlosigkeit kompensierte er immer: tags darauf wurde gearbeitet oder – im höheren alter dann – geruht.

apropos 30-jähriger. der hausarzt bescheinigte ihm bis weit über 90 blutwerte eines jungspunds. tatsächlich war sein cholesterinspiegel sensationell, er hatte nie „zucker“, und übergewichtig wurde er erst in seinen letzten lebensjahren ein bisschen, als er nicht mehr radfahren und den ganzen tag auf achse sein oder in seiner werkstatt herumbasteln konnte. es war ihm gar nicht recht, dass er auf seine alten tage noch „wampert“ wurde! denn eitel, oh ja, das war er! legte großen wert auf schöne kleidung (ich bin mehrmals mit ihm anzug einkaufen gefahren. das durfte nur ich!), und sein gescheiteltes weißhaar musste zu besonderen anlässen mit haarspray fixiert werden. „pfugazen“ nannte er das sprühen, und eine dose haarspray musste stets auf seinem allibert bereitstehen, andernfalls er flugs jemanden einkaufen schickte.

gegen ende seines lebens war nahrungsverweigerung sein letztes mittel der selbstbestimmung. ich erinnere mich, wie ich – frisch zurück aus mosambik, den sterbenden großvater vor mir und selbst noch komplett neben mir – bei ihm im bett gesessen bin und ihm pfirsichkompott gefüttert habe. das hat er gegessen! sonst hat ihn über die letzen wochen seines lebens hauptsächlich eine spezialnahrung, eigentlich sondennahrung, gerettet. allerdings nicht über eine sonde, sondern in seinem riesen-lieblingshäfen, in dem er sich zuvor immer frühstückssemmel, -briochekipferl oder kuchenreste in den milchkaffee „eingebrockt“ und ausgelöffelt hatte. sondennahrung ist bilanzierte diät, das heißt sie ist nährstoffangereichert. so sehr, dass sie als einzige nahrung ausreichen könnte. es gibt sie unter anderem in der geschmacksrichtung kakao, leider nicht in milchkaffee. aber kakao war für den großvater auch ok. so ernährte er sich also wochenlang fast ausschließlich von briochestriezel, in sondennahrungskakao eingebrockt und ausgelöffelt. gelöffelt freilich längst nicht mehr von ihm selbst, sondern von der mutter, den damen von der caritas oder eben auch von mir. alles andere verweigerte er immer öfter. mit einer ausnahme: zwei monate vor seinem tod, er war da schon bettlägrig und es ging ihm gerade sehr schlecht, kam ich nach hause, auf das schlimmste gefasst. wir standen abends um sein bett und plauderten, plötzlich verlangte er nach tee. mit folgendem nachsatz: “owa an g’scheitn!” diesen wunsch erfüllte ich ihm gerne! was sollte schon sein? der rum hätte sich nicht mit den schmerzmitteln vertragen können. ja, und? wenn mein sterbender opa tee mit rum will, dann soll er tee mit rum kriegen! fand ich. fand die ganze familie. finde ich auch heute noch. und nix hat er ihm getan! im gegenteil! er hat zwei häferl quasi ex via strohhalm genommen und dann richtig gut geschlafen.

gestorben ist er am pfingstwochenende, als die ganze familie zu hause war. man kann davon halten, was man will,  ich glaube, dass auch der zeitpunkt seines todes ein bisschen selbstbestimmt war. dem opa war es immer die größte freude, alle um sich zu haben. gegen ende hin kam dazu die angst, allein zu sein. am samstag waren wir noch feiern, den geburtstag einer tante. angesichts seines lebenswandels hielten wir es nicht für pietätlos, zu feiern, während sich sein leben dem ende zuneigte. am abend verabschiedeten wir uns von ihm, vor dem schlafengehen flüsterte jede/-r von uns ihm seine/ihre abschiedsworte ins ohr. in der morgendämmerung, in der er so oft erst vom fortgehen nach hause gekommen war, schlief er dann zum letzten mal ein …

dass ich ihn dann noch rasierte, wir ihm seinen lieblingsanzug, krawatte und die tanzschuhe anzogen, und natürlich die haare mit spray pfugazten, das war unsere letzte verbeugung vor seiner selbstbestimmten eitelkeit.

danach verbeugten sich übrigens noch ganz viele leute mehr. die kunde von seinem tod verbreitete sich in windeseile. und frühmorgens standen schon die ersten kondolenzbesucher vor der tür. als sie den herausgeputzen leichnam des großvaters sahen, waren sie bewegt von dem, was er immer noch ausstrahlte: ruhe, kraft, würde, zufriedenheit, ja, sogar fröhlichkeit. es fällt mir schwer, es in worte zu fassen, aber es war ein schöner anblick. in rücksprache mit dem bestatter beschlossen wir, den großvater bis am abend zu hause zu behalten. in seinem wohnzimmer. auf dass, wer sich verabschieden kommen wollte, die gelegenheit dazu hätte. es kamen viele leute. und es war jedes mal dasselbe: tief bewegt gingen sie wieder. der tag, an dem der opa starb, war einer der bewegendsten meines lebens. es war sein tag, es ging um nichts als um ihn. ähnlich wie an seinem 100. geburtstag, aber ruhiger, trauriger, endgültig.

prost, opa! du fehlst mir!

großvater