fleisch und gesundheit. oder: schon wieder zu kurz gedacht!

fleisch und gesundheit. oder: schon wieder zu kurz gedacht!


eine neue studie wurde an mich herangetragen. was sie für einen beitrag zur fleischdiskussion liefern könne, bat man mich, zu beurteilen. habe ich gerne gemacht. nur, jetzt habe ich so viel adrenalin in mir, dass ich es mir noch runterschreiben muss:

es handelt sich nicht nur um eine studie, die im november 2019 in den annals of internal medicine, einem doch recht renommierten fachmagazin, publiziert wurde. sondern auch gleich um neue empfehlungen für den fleischkonsum. verfasst und ausgesprochen vom Nutritional Recommendations (NutriRECS) Consortium. rezipiert in zahlreichen medien. (zur verteidigung der forscherInnen: so explizit, wie es einige medien dargestellt haben, haben sie es – wie so oft – nicht formuliert!) sinngemäß: leute, esst weiterhin so viel rotes und verarbeitetes fleisch wie bisher, es wird euch nicht schaden!

was haben die wissenschaftlerInnen gemacht? sie haben sich eine vielzahl an studien zum konsum von rotem und verarbeitetem fleisch und dessen gesundheitliche auswirkungen angeschaut. soweit ich das beurteilen kann, eine gut gemachte arbeit. herausgefunden haben sie, dass die evidenz, also die beweislage, für den zusammenhang zwischen konsum und negativen auswirkungen schwach ist. (oh wunder! das ist er, wie bereits vielfach beklagt, nicht nur von mir, sondern auch von ganz großen koryphäen wie professor ioannidis, eh bei fast jeder ernährungsfrage!) und dass, weniger fleisch zu essen, nur mit geringen gesundheitlichen benefits einhergeht.

aus diesen ergebnissen leiten sie ihre empfehlungen ab. die da lauten: “we suggest that individuals continue their current consumption of both unprocessed red meat and processed meat” und fügen in klammer dazu: “both weak recommendations, low-certainty evidence”. und das heißt so viel wie: leute, esst weiterhin so viel rotes und verarbeitetes fleisch wie bisher, aber diese empfehlung ist eine schwache, denn die evidenz dafür ist schlecht.

es ist jetzt also scheinbar so: die evidenz, dass ein hoher fleischkonsum gesundheitlich bedenklich ist, ist schlecht. die evidenz, dass er unbedenklich ist, ist genauso schlecht. da steh ich nun, ich armer tor, …

bis hierher finde ich das alles mäßig spannend, denn es überrascht mich überhaupt nicht. was aber unter “other considerations” kommt, bringt mein blut in wallung: “The panel […] decided that issues of animal welfare and potential environmental impact were outside the scope of this guideline.”

es ist halt wie (fast) immer in der ernährungsforschung: man schaut sich an, wie (un)gesund xy ist, findet heraus, dass man es nicht genau sagen kann, weil die beweislage so schlecht ist. dann ringt man sich zu einer halbseidenen empfehlung durch, mit der man die leute wahlweise traktiert oder amnestiert. die wirklich wichtigen fragen aber, die bleiben unangetastet, weil sie “outside the scope” sind.

es ist aber eben nicht “outside the scope”, wie viel fleisch wir essen! der menschliche fleischkonsum ist nichts weniger als das größte problem der welternährung! deshalb ist es unverantwortlich, in nordamerika, der fleischvielfraß-gegend schlechthin, die empfehlung auszusprechen, nichts am fleischkonsum zu ändern, und sich mit einem lapidaren “outside the scope” aus der verantwortung zu stehlen!

einfache lösungen für komplexe probleme hat es noch nie gegeben! der fleischkonsum ist ein hochkomplexes problem. und “animal welfare and potential environmental impact” müssen selbstverständlich mitgedacht werden!

freundInnen differenzierter problembetrachtung und vor allem lösungsansätze empfehle ich eat-lancet! und jetzt gehe ich meinen kichererbsensalat voller nachhaltigem eiweiß essen!

[bildnachweis: screenshot der website der annals of internal medicine]

nachhaltige ernährung: die bestätigung von allerhöchster instanz

nachhaltige ernährung: die bestätigung von allerhöchster instanz


seit 16. jänner bin ich beruflich ziemlich aus dem häuschen. am 16. jänner ist nämlich etwas passiert, was sozusagen meinen gesamten beruflichen weg bisher zusammenfasst und dem nicht ganz konventionellen weg, den ich eingeschlagen habe, berechtigung von höchstoberster wissenschaftlicher instanz verleiht.

am 16. jänner 2019 kam eine publikation heraus. nicht irgendeine publikation, sondern die wichtigste, seit ich innerhalb der ernährungswissenschaft die abzweigung zur nachhaltigkeit genommen habe.

ein meilenstein ist diese publikation auch innerhalb der ernährungs- und gesundheitswissenschaftlichen community. walter willett, einer der führenden ernährungsepidemiologen weltweit und professor an der havard medical school, ist jeder/m wissenschaftlerIn ein begriff, die/der sich mit dem zusammenhang von gesundheit und ernährung jemals auseinandergesetzt hat. ich schreibe nur nurses’ health und health professionals studies…
dieser walter willett hat nun mit dem global führenden wissenschaftler zu den globalen ökosystemgrenzen, johan rockström vom stockholm resilience centre, und einer vielzahl weiterer wissenschaftlerInnen aus 16 nationen eine publikation im lancet veröffentlicht, die erstmals die beste wissenschaftliche evidenz aus beiden disziplinen vereint.
herzstück der publikation ist eine ernährungsweise, die bis 2050 (und darüber hinaus) die gesundheit aller bis dahin lebenden knapp zehn milliarden erdenbürgerInnen UND des planeten erde sicherstellt.

die publikation hat 47 dichte seiten. in einem 27-minütigen ted-talk erläutern die beiden herren die kernaussagen der zusammenführung ihrer erkenntnisse. es sind 27 bestens investierte minuten lebenszeit! überhaupt ist die gesamte seite der eat-lancet commission lesenswert!

ich habe mir den ted-talk angeschaut und ein paar blitzlichter daraus festgehalten:

“so the sad part of our system is: this is destroying the environment, at the same time it is undermining human health. and it’s hard to imagine how we could have created a more disfunctional system.” [ab 4:00]
walter willett zeigt ein foto von einer riesen-maismonokultur im us-mittelwesten und erklärt die tragödie dahinter: weniger als 10 % dieses kukuruz werden direkt vom menschen gegessen (35 % werden zu bio-treibstoff, 45 % zu tierfutter, 15 % in die verarbeitung, hs. zu high-fructose-maissirup). und fasst wie oben zusammen.

Bildschirmfoto 2019-03-13 um 22.08.14

walter willett, weiterhin, zu den mengen an rotem fleisch (schwein, rind, lamm), die für mensch und planet erde “gesund” sind: “that’s a big juicy burger a week, if you want that, or a big juicy steak a month, if you want that. which is how people treated red meat in the traditional mediterranian diet. it was something that was special for birthdays, for holidays, for religious events.” [ab 8:30]

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“you can be a vegan, if you want to, but you can be an omnivore, if you want to, and anything in between.” ebender. [ab 11:32]

Bildschirmfoto 2019-03-13 um 22.08.03

johan rockström übernimmt: “the unique feature of this first ever scientific assessment is that we got the medical scholars to work together with the sustainability scholars for the first time, advancing an integrated, universe framework to quantify healthy diets from sustainable food systems.” [ab 13:27]
“[…] the necessity from the planetary scale to defining a safe operating space for the food system.” [ab 13:48]
“we therefore analyzed what are the fundamental environmental impacts that the food system generates today.” [ab 13:55] nämlich:

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johan rockström weiterhin, mit blick auf die letzte zeile der tabelle und damit die lösung der challenge, 10 milliarden menschen gesund zu ernähren und den planeten erde gesund zu erhalten: die triade aus nachhaltigen produktionspraktiken, halbierung der lebensmittelabfälle und gesunde ernährung (wie zuvor von walter willett erläutert) “can take us entirely back into safe operating space!” [19:30]

Bildschirmfoto 2019-03-13 um 11.27.18

conclusion remarks, johan rockström: “isn’t it fantastic that the science now shows that the story […] about health and sustainable food can actually take us to a desired prosperous and socially equitable future for humanity on earth?! that is fundamentally what this eat-lancet report shows!” [26:50]

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habe ich schon gesagt, dass ich ganz aus dem häuschen bin?!

 

alle bilder sind screenshots aus dem ted-talk, (c) eat-lancet commission.
das titelbild ist ein screenshot der website https://eatforum.org/eat-lancet-commission/.

 

 

 

 

endlich habe ich eine meinung zu palmöl!

endlich habe ich eine meinung zu palmöl!


(c) fürs beitragsbild: forum. ernährung heute

ich gestehe: ums palmöl habe ich mich bis vor kurzem herumlaviert und schön brav den mund gehalten, wenn die diskussion darauf kam. dass die thematik – wieder einmal – komplex ist, war mir klar. die zeit, mich der komplexität in einer form anzunehmen, die meinem anspruch gerecht wird, sprich: ordentlich zu recherchieren, habe ich mir noch nicht genommen.

brauche ich aber zum glück auch nicht mehr, das haben nämlich andere für mich gemacht:

1. der in vielerlei hinsicht hoch geschätzte tobias müller hat fürs ströck-magazin eine kompakte, gute übersicht verfasst. sehr empfehlenswert und hier lesbar.

2. das form. ernährung heute, dessen veranstaltungen ich seit jahren gerne besuche, weil sie zu den spannendsten gehören, die die österreichische ernährungsszene zu bieten hat, hat sich kürzlich des themas angenommen. und zwar aus vier perspektiven: der gesundheitlichen, der ökologischen, der technologischen und der herstellerischen. herausgekommen ist ein differenziertes, undogmatisches palmöl-update, das hier nachgelesen werden kann.

meine meinung in aller kürze:

  • die ölpalme ist die produktivste aller ölpflanzen. oder anders gesagt: sie bringt die höchste ölmenge bei geringstem flächenverbrauch. oder noch anders gesagt: palmöl durch soja-, raps-, sonnenblumen- oder andere öle zu ersetzen, würde bedeuten, mehr flächen zu verbrauchen.
  • palmöl ist mit sicherheit nicht das gesündeste pflanzenöl. die fettsäurezusammensetzung hat luft nach oben, die rückstandsproblematik ist aber im griff.
  • palmöl hat herausragende technologische eigenschaften, die kaum bis gar nicht nachzuahmen sind.
  • die (konventionelle) palmöl-produktion richtet massive ökologische und soziale schäden an.
  • die palmöl-produktion muss nachhaltig(er) werden, die verantwortung, das zu pushen, liegt vor allem beim europäischen markt (konsumentInnen wie unternehmen).
  • wir sollten global weniger palmöl konsumieren. wir sollten vor allem aufhören, palmöl als biotreibstoff zu verwenden. wir sollten global weniger öl konsumieren. wir sollten global überhaupt weniger konsumieren.
  • ein genereller palmöl-boykott ist keine gute lösung.
  • bio ist wieder einmal besser.

ich sage besten dank, dass ich jetzt fundiert meiner multiplikatorInnenrolle gerecht werden und wieder den mund aufreißen kann!

kinder, kinder, endlich wieder!

kinder, kinder, endlich wieder!


lange lange hat mich mein eigenes kind (achtung, vorwand! in wahrheit ist’s die prioritätensetzung: zeit mit dem kind zu verbringen, ist noch ein alzerl besser als schreiben …) vom blogeintragschreiben abgehalten. jetzt gibt’s endlich wieder einmal einen beitrag!

ich hatte die ehre, mein im lauf der letzten jahre theoretisch und praktisch angesammeltes wissen ums essen mit kindern für den falstaff zusammenzufassen. herausgekommen ist das. nachzulesen noch viel schöner in der aktuellen printausgabe. freu mich!

milch-bashing, nächste runde … und bisher die dümmste

milch-bashing, nächste runde … und bisher die dümmste


das milch-bashing geht in die nächste runde! “drei gläser milch am tag können tödlich sein” titelte die bild-zeitung gestern als ihr resümee einer schwedischen studie, erschienen im british medical journal.
und nicht nur die bild-zeitung hat das thema geifernd aufgegriffen. ich hab’ kurz gegoogelt, jetzt ist mir schlecht.

ich habe mich ja schon mehrfach echauffiert über die unausgewogenheit der medialen berichterstattung rund um das thema milch. der bild-titel ist jetzt mit abstand das dümmste ist, was ich dazu bisher gelesen habe. ich koche vor wut. kann man eigentlich den presserat wegen fahrlässiger verbreitung von falschinformationen einschalten?

verdammt noch einmal, lest die studien, und wenn ihr sie nicht versteht, dann haltet den mund!

hier die zusammenfassung der autorInnen aus dem originalpaper: “A higher consumption of milk in women and men is not accompanied by a lower risk of fracture and instead may be associated with a higher rate of death. Consequently, there may be a link between the lactose and galactose content of milk and risk as suggested in our hypothesis, although causality needs be tested using experimental study designs. Our results may question the validity of  ecommendations to consume high amounts of milk to prevent fragility fractures. The results should, however, be interpreted cautiously given the observational design of our study. The findings merit independent replication before they can be used for dietary recommendations.”

ich darf übersetzungstechnisch ein bissl nachhelfen: “may be” heißt “kann sein”, nicht “ist”. “associated” heißt “verbunden”, und das wiederum kann kein kausalzusammenhang sein “given the observational design of our study”, also “aufgrund des beobachtenden studiendesigns”. “interpret cautiously” heißt “vorsichtig interpretieren”, und “findings merit replication before used for recommendations” heißt “die ergebnisse benötigen wiederholungen, bevor sie für empfehlungen genutzt werden können”.

heißt irgendwas davon “drei gläser milch am tag können tödlich sein”?! eben!

die autorInnen diskutieren sogar, dass ursache und wirkung verkehrt sein könnten: “Theoretically, the findings on fractures might be explained by a reverse causation phenomenon, where people with a higher predisposition for osteoporosis may have deliberately increased their milk intake.”

ich sage nicht, dass studien wie diese vom tisch gewischt werden sollten. wissenschaft ist dauernd im fluss, jedes studienergebnis ist ein weiteres mosaiksteinchen in einem gesamtbild. aber das ist der punkt: das gesamtbild besteht aus vielen, vielen steinen. und ein stein ändert niemals das ganze bild.

und dann gibt es neben den gesundheitssteinen noch die kultursteine (milchwirtschaft ist z.b. untrennbar mit der österreichischen kultur verbunden), die sozialsteine (zahlreiche bäuerInnen leben von der milchwirtschaft), die umweltsteine (kühe können aus für uns unverdaulichem gras das gut verdauliche, hochwertige lebensmittel milch machen), die tierwohlsteine (wie werden denn die milchviecher gehalten?) und viele andere mehr.

leute, bitte schaut doch endlich aufs ganze bild!!!

wo ist die evidenz in der ernährungsforschung?

wo ist die evidenz in der ernährungsforschung?


[der text ist in der ernährung heute 1/2014, einem fachmagazin des forum. ernährung heute – verein zur förderung von ernährungskommunikation, erschienen.]

Es gab eine Zeit, da entschied ein Arzt nach seinem Gutdünken über die Behandlung. Ob sie wirksam war oder gar schädlich, stellte sich oft erst im Nachhinein heraus. Der Aderlass ist vielleicht das bekannteste Beispiel für eine Methode, die viel Schaden und wenig Nutzen anrichtete, sich aber von der Antike bis ins 19. Jahrhundert gehalten hatte.
Heutzutage ist das zum Glück anders. In der Medizin hat es sich durchgesetzt, dass eine Behandlung auf ihre Wirksamkeit hin überprüft, also evidenz-basiert, sein muss. Das gilt auch für die Ernährungswissenschaft. Alle großen Fachgesellschaften formulieren ihre Empfehlungen auf der Basis der wissenschaftlichen Evidenz.

Berechtigte Zweifel?
“Wer gesund lebt, ist selber schuld!“(1), „Ernährung: Fleischesser sterben – Vegetarier auch!“(2) oder „Ernährungsregeln: Wo bleiben die Daten?“(3) Wir kennen sie, die Querschüsse gegen die gängigen Ernährungsempfehlungen. Oft kommen sie aus den eigenen Reihen: Udo Pollmer, Nicolai Worm, Ulrike Gonder, Uwe Knop, um die prominentesten im deutschsprachigen Raum zu nennen. Dass drei dieser Herrschaften ErnährungswissenschafterInnen sind und auch der vierte, Pollmer, als Lebensmittelchemiker das wissenschaftliche Handwerk beherrscht, macht das Entkräften ihrer Argumente mitunter schwierig. Aber muss man sie überhaupt entkräften? Haben sie nicht vielleicht sogar Recht?

Ich bin ein skeptischer Geist. Will nichts vom Tisch wischen, ohne es mir vorher genauer anzuschauen. Halte Augen und Ohren in alle Richtungen offen. Und schließe niemals aus, eine gefasste Meinung zu revidieren. Deshalb haben mich die Querschüsse immer schon interessiert. Ihnen nachzugehen, ist zeitaufwändig, deshalb habe ich das laufend verschoben. Bis ich kürzlich auf ein Editorial von John Ioannidis, Stanford-Professor für Medizin, Gesundheitsforschung und -policy sowie Statistik, im British Medical Journal vom November 2013 stieß. „Viele Studienergebnisse sind völlig unglaubwürdig“, schreibt er, „fast jeder erdenkliche Nährstoff“ sei bereits „mit fast jedem Ergebnis“ verknüpft worden, vor allem die Ernährungserhebungen und die verzerrenden Wirkungen von Confoundern erachtet er als problematisch. Auch „eine weitere Million Beobachtungs- oder kleine Interventionsstudien werden keine endgültigen Lösungen liefern“ (Ioannidis, 2013).

Fehlende Evidenz?
Gerd Antes, Direktor des Deutschen Cochrane Zentrums, einer Zweigstelle der Cochrane Collaboration, die sozusagen ein Evidenz-Leuchtturm im Meer der biomedizinischen Forschung ist (siehe Infos am Ende), stößt ins selbe Horn: „Die Ernährungswissenschaften sind in einer bemitleidenswerten Lage. Studien in diesem Bereich sind von vielen unbekannten oder kaum messbaren Einflüssen abhängig. Deswegen gibt es immer wieder völlig widersprüchliche Ergebnisse“, sagte er im April 2011 zur Süddeutschen Zeitung (Bartens, 2011).

Fachgesellschaften, wie ÖGE, DGE, American Heart Association und andere, sowie öffentliche Institutionen, wie WHO, Ministerien, AGES, EFSA etc., arbeiten mit der wissenschaftlichen Evidenz als Basis. Dennoch stehen auch sie immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik, beispielsweise zu schwerfällig auf neue Forschungsergebnisse zu reagieren oder ihre Empfehlungen nicht rasch genug (oder überhaupt nicht) anzupassen. Mitunter geht die Kritik sogar so weit, dass Fachgesellschaften vorgeworfen wird, sich nicht an die wissenschaftlichen Regeln zu halten und Empfehlungen zu formulieren, die nicht ausreichend evidenz-basiert seien (Alexander et al., 2014; Wolever, 2002). Beobachtungsstudien dürften niemals als Basis für Empfehlungen dienen, kritisiert Uwe Knop (2013) und untermauert seine Argumente durch ein Zitat der Vorsitzenden des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin Gabriele Mayer: „Beobachtungsstudien sind nicht geeignet, präventive oder therapeutische Empfehlungen abzuleiten.“

Wo sind sie, die hard facts?
Es wäre anmaßend, als Einzelperson alle Ernährungsstudien in all’ ihrer Komplexität auf ihre Aussagekraft hin beurteilen zu wollen: Wurden alle potenziellen Confounder berücksichtigt? Sind die Ergebnisse der Ernährungserhebung valide? War die Hypothese klar formuliert? Ist das ermittelte Konfidenzintervall breit oder schmal? Liegt ein publication bias vor oder gar interessengeleitete Forschung?

Die biomedizinische Wissenschaft gibt aber klare Regeln vor: Es gibt eine Hierarchie von Studien, Korrelation bedeutet niemals automatisch Kausalität, Wirkungszusammenhänge können nur durch Interventionsstudien zweifelsfrei bewiesen werden, harte Endpunkte wie Erkrankung oder Tod sind so genannten Surrogatparametern (z.B. Cholesterinwerte, Blutdruck) überlegen, randomisierte, kontrollierte Studien (RCTs) sind der Goldstandard, und systematische Reviews bzw. Meta-Analysen der Gipfel der Evidenz.

Wie ist es, diese Regeln berücksichtigend, um die Evidenz der Ernährungsinformationen bestellt, mit denen ich selbst seit Jahren hantiere? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit habe ich einige unter die Lupe genommen.

Evidenz für Fettmodifikation
Die DGE ordnet und bewertet die vorliegende Evidenz nach Härtegraden. Als „überzeugend“ bezeichnet sie sie dann, „wenn eine erhebliche Anzahl von Studien einschließlich prospektiver Beobachtungsstudien und, wo möglich, randomisierter kontrollierter Interventionsstudien mit genügender Größe, Dauer und Qualität mit konsistenten Ergebnissen vorliegen“. In der Leitlinie „Fettkonsum und Prävention ausgewählter ernährungsmitbedingter Erkrankungen“, die bereits 2006 publiziert wurde, bescheinigte die DGE überzeugende Evidenz den ZusammenhängenGesamtfett, gesättigte Fettsäuren und trans-Fettsäuren und Risikoerhöhung für Dyslipoproteinämie sowie einfach ungesättigte Fettsäuren und die mehrfach ungesättigten FettsäurenOmega-6-Fettsäuren sowie langkettige Omega-3-Fettsäuren und ein vermindertes Risiko für Dyslipoproteinämie.

Omega-3-Fettsäuren senkten mit überzeugender Evidenz auch das Risiko für Bluthochdruck. Nun sind aber Dyslipoproteinämie und Bluthochdruck Surrogatparameter. Dass sie durch Nahrungsfett beeinflusst werden, beweist nicht zwingend, dass die Fette auch das Herz-Kreislauf-Risiko modifizieren.

Für die harten Endpunkte koronare Herzkrankheiten (KHK), Schlaganfall und Krebs ermittelte die DGE nur für zwei Zusammenhänge überzeugende Evidenz: ein reduziertes Risiko für KHK durch langkettige Omega-3-Fettsäuren und ein erhöhtes Risiko für KHK durch trans-Fettsäuren. Wie bereits erwähnt wurden für die Einstufung „überzeugend“ aber nicht nur RCTs, sondern auch Beobachtungsstudien herangezogen.

Ein genauer Blick ins Kapitel Omega-3-Fettsäuren und primäre Prävention der KHK zeigt beispielsweise, dass die als überzeugend eingestufte Evidenz für Risikoreduktion durch langkettige Omega-3-Fettsäuren hauptsächlich auf Ergebnissen von Beobachtungsstudien bzw. Meta-Analysen von Beobachtungsstudien basiert – weil es offenbar wenige RCTs mit Omega-3-Fettsäuren in der Primärprävention von KHK gibt (DGE, 2006).

Evidenz aus ausschließlich RCTs liegt von der Herzgruppe der Cochrane Collaboration vor. Sie publizierte 2012 eine Meta-Analyse von Ergebnissen aus 48 RCTs mit insgesamt mehr als 70000 Teilnehmern mit und ohne Herz-Kreislauferkrankungen, die Fettreduktion oder -modifikation über mindestens sechs Monate als Intervention durchliefen. Ausschließlich harte Endpunkte wurden berücksichtigt (Tod und Herz-Kreislauf-Erkrankungen). Die wichtigsten Ergebnisse: Geringe, aber möglicherweise bedeutende Risikoreduktion für Herz-Kreislauf-Erkrankungen durch Fettmodifikation, nicht aber durch Gesamtfettreduktion und nur bei Männern, in Studien mit mindestens zweijähriger Dauer. Kein deutlicher Effekt auf die Sterblichkeit. Die Autoren schließen aus ihren Ergebnissen, dass die Empfehlung, gesättigte Fettsäuren zu reduzieren und teilweise durch ungesättigte zu ersetzen, beibehalten werden sollte. Die ideale Art von ungesättigten Fettsäuren sei aber nicht klar (Hooper et al., 2012).

Um noch einmal auf Omega-3-Fettsäuren zurückzukommen: Zwei neuere Meta-Analysen von Interventionsstudien mit harten Endpunkten (Tod und verschiedene kardiovaskuläre Erkrankungen) ermittelten kaum Risikosenkungen durch Omega-3-Fettsäuren, insbesondere das Herzinfarktrisiko war nicht vermindert (Kotwal et al., 2012; Rizos et al., 2012).

Evidenz für 5 am Tag
Fünf Mal am Tag Obst und Gemüse ist möglicherweise die bekannteste Ernährungsregel. Auch sie steht im Kreuzfeuer der Kritik. Wie schaut’s hier aus mit der Evidenz?

Schon die DGE fasst in ihrer Stellungnahme „Gemüse und Obst in der Prävention ausgewählter Erkrankungen“ aus dem Jahr 2012 zusammen, dass lediglich die Evidenz der Zusammenhänge zwischen Obst- und Gemüsekonsum und Bluthochdruck, KHK und Schlaganfall „überzeugend“ seien, für die Risikoreduktion von Adipositas, Typ-2-Diabetes und Krebserkrankungen sei die Evidenz nur „wahrscheinlich“ (Einstufung des Evidenz-Härtegrades „überzeugend“ siehe oben, „wahrscheinlich“ wird vergeben, „wenn die epidemiologischen Studien einigermaßen konsistente Beziehungen zwischen Merkmal und Erkrankung zeigen, aber erkennbare Schwächen bei der verfügbaren Evidenz bestehen oder Evidenz für gegenteilige Beziehung besteht, die eine eindeutigere Bewertung ausschließen.“) (DGE, 2012). Schaut man in die jeweiligen Kapitel, findet man Evidenz für die blutdrucksenkende Wirkung von Obst und Gemüse aus RCTs und Beobachtungsstudien, wenn auch mit teilweise inkonsistenten Ergebnissen. Bluthochdruck selbst ist aber ein Surrogatparameter. Die Evidenz der risikosenkenden Wirkung durch Obst und Gemüse für KHK und Schlaganfall stammt einerseits aus Beobachtungsstudien und andererseits aus RCTs, die aber nicht KHK oder Schlaganfall, sondern wieder nur Surrogatparameter als Endpunkte hatten (DGE, 2012).

Von der Cochrane Heart Group liegt eine Meta-Analyse von 10 RCTs mit 1730 Teilnehmern vor, die keine Herz-Kreislauf-Risikosenkung durch Obst-und-Gemüse-Intervention bestätigen konnte, weil die Studiendauern (drei Monate bis ein Jahr) zu kurz waren und keine klinischen Events eintraten. Bei Surrogat-Risikoparametern wie Blutdruck und LDL-Cholesterin wurden Verbesserungen ermittelt. Um die Wirkung von Obst-und-Gemüse-Konsum in der Primärprävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu bestätigen, seinen weitere Studien nötig, schließen die Autoren (Hartley et al., 2013).

Evidenz gegen Fleisch und für Alkohol
Vertraut sind uns auch die Empfehlung, nicht zu viel rotes und/oder verarbeitetes Fleisch zu essen, sowie die verhaltene Erlaubnis, ein, zwei Achterl täglich „fürs Herz“ zu trinken. In einigen aktuellen Meta-Analysen sind die Zusammenhänge zwischen rotem/verarbeitetem Fleisch und Herz-Kreislauferkrankungen sowie Typ-2-Diabetes beschrieben, stammen aber alle aus Beobachtungsstudien (Feskens et al., 2013; Kaluza et al., 2012; Micha et al., 2012). Dasselbe gilt für die herzschützende Wirkung von Alkohol: Zwar belegt eine Meta-Analyse von RCTs die Verbesserung von Surrogatparametern, allen voran HDL-Cholesterin, durch Alkoholkonsum (Brien et al., 2011), und eine weitere Meta-Analyse ermittelte signifikant niedrigere Risiken für Mortalität, KHK und KHK-Mortalität bei Alkohol-Konsumierenden im Vergleich zu Abstinenten. Diese Daten mit harten Endpunkten stammen aber „nur“ aus Beobachtungsstudien (Ronksley et al., 2011). Hier zeigt sich eine Schwierigkeit der Ernährungsforschung sehr deutlich: Einen RCT mit Alkoholkonsum als Intervention durchzuführen, wäre angesichts der Alkohol-Risiken, allen voran Sucht, ethisch höchst bedenklich.

Fazit
„Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor“ geht’s mir jetzt wie Goethes Faust. Das stimmt aber nicht ganz. Die Suche nach der Evidenz in der Ernährungsforschung brachte sehr wohl Erkenntnisgewinn: Ich stelle die Ernährungsforschung nicht generell in Frage. Zur Methodik der biomedizinischen Wissenschaft gibt es für mich keine Alternative. Was die Ernährungsempfehlungen diverser Gremien und Gesellschaften betrifft, maße ich mir nicht an, wissenschaftliches Studienmaterial besser beurteilen zu können als sie. Alarmiert von den vielen Querschüsse und Kritiken, heißt es aber als Fachkraft und Multiplikator selbst noch kritischer zu sein und Empfehlungen nicht mehr unhinterfragt zu übernehmen, sondern genauer zu schauen, wie sie zustande kamen, welche Studien verwendet wurden, wie die Evidenzklassen gebildet werden (siehe auch Infos am Ende). Und ich hole Zusatzinformationen ein, vorzugsweise aus der Cochrane Library. Die Cochrane Collaboration genießt sehr hohes Ansehen in der wissenschaftliche Community, ihre systematischen Übersichtsarbeiten sind eine ausgezeichnete Anlaufstelle für evidenz-basierte Informationen (siehe Infos am Ende). Leider ist die Zahl der Reviews zu Ernährungsthemen aber überschaubar. Das liegt auch an dem generellen Problem der Ernährungsforschung, dass es zu wenige große, gute RCTs gibt, ja, geben kann.

Vielleicht täte uns Demut gut. Die Ernährungswissenschaften sind nun einmal eine junge Wissenschaft, und wir stehen vor unglaublich komplexen Fragestellungen. Deshalb ist die Evidenz oft nicht hart, sind Studienergebnisse häufig widersprüchlich und viele Fragen (noch) unbeantwortet. Was natürlich nicht heißt, dass nicht-bewiesene Zusammenhänge nicht existierten, aber die Regeln der Wissenschaft schreiben nun einmal vor, dass wir nur als gesichert bezeichnen dürfen, was entsprechend untersucht und bestätigt ist.

Und dann ist da noch der Blick über den Tellerrand: Gesundheit ist nur ein Aspekt beim Essen. Qualität, ökologische und soziale Nachhaltigkeit in der Produktion, tiergerechte Haltungsbedingungen, Genuss, Freude, soziales Erleben – ich halte das mittlerweile für wichtiger. Und fühle mich auch von Professor Ioannidis (2013) bestätigt: „Wir sollten auch weiterhin andere Ernährungsaspekte erforschen – wie Ernährungssicherheit, Nachhaltigkeit, soziale Ungleichheiten, Hunger und die Auswirkung der Nahrungsmittelproduktion auf das Klima –, die Gesellschaften und Wohlbefinden möglicherweise auf vielfältige Art ebenfalls beeinflussen.“

Infos am Ende
Der Weg von der wissenschaftlichen Evidenz zur Empfehlung ist komplex. Es gilt, die Evidenz nach Validitätskriterien zu ordnen und Ableitungen für die Praxis zu treffen. Die bekanntesten und von Fachgesellschaften am häufigsten verwendeten Kriterien sind jene des Centre for Evidence-Based Medicine Oxford, die Einteilung von SIGN (Scottish Intercollegiate Guidelines Network) und zunehmend das um Einheitlichkeit bemühte GRADE-System (Grading of Recommendations Assessement, Development and Evaluation), auf das beispielsweise die WHO zurückgreift. Einen guten Überblick mit weiterführenden Links gibt’s auf www.cochrane.de/evidenz-empfehlung.

Die Cochrane Collaboration, 1993 gegründet und nach dem britischen Epidemiologen Sir Archibald Leman Cochrane benannt, ist eine internationale gemeinnützige Organisation mit dem Ziel, aktuelle medizinische Informationen und Evidenz zu therapeutischen Fragen allgemein verfügbar zu machen. Sie erstellt nach strengen Regeln systematische Reviews, vorzugsweise von RCTs, die in der Cochrane Library publiziert werden. Die Abstracts sind öffentlich zugänglich, JournalistInnen können einen Fulltext-Zugang anfordern. www.thecochranelibrary.com

Wer sich einen schnellen Überblick über die Evidenz diverser medizinischer (und ernährungswissenschaftlicher) Fragestellungen verschaffen will, dem sei www.medizin-transparent.at empfohlen. Ein Team des Department für Evidenzbasierte Medizin und Klinische Epidemiologie an der Donau-Universität Krems nimmt Pressemeldungen unter die Lupe und prüft sie auf ihren wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt. Das Archiv ist mittlerweile umfassend und eine gute, praxisorientierte erste Anlaufstelle auch für Ernährungsfragen.

Fußnoten
(1) Buchtitel von Udo Pollmer und Monika Niehaus
(2) Kommentar von Ulrike Gonder in Novo Argumente vom 30.3.2102 (Zugriff am 13.1.2014)
(3) Kommentar von Uwe Knop in Novo Argumente vom 3.4.2013 (Zugriff am 13.1.2014)

Literatur
Alexander PE, Bero L, Montori VM, Brito JP, Stoltzfus R, Djulbegovic B, et al. World Health Organization recommendations are often strong based on low confidence in effect estimates. J Clin Epidemiol 2014;S0895-4356(13)00434-4
Bartens W. Flasche Früchtchen. Süddeutsche Zeitung, 14.4.2011 (http://www.sueddeutsche.de/wissen/2.220/nahrung-als-heilmittel-falsche-fruechtchen-1.1085049, Zugriff am 13.1.2014)
Brien S, Ronksley PE, Turner BJ, Mukamal KJ, Ghali WA. Effect of alcohol consumption on biological markers associated with risk of coronary heart disease: systematic review and meta-analysis of interventional studies. BMJ 2011;342:d636
Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Fettkonsum und Prävention ausgewählter ernährungsmitbedingter Erkrankungen. Evdienzbasierte Leitlinien. 2006
Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Gemüse und Obst in der Prävention ausgewählter chronischer Krankheiten. Stellungnahme. 2012
Feskens EJ, Sluik D, van Woudenbergh GJ. Meat consumption, diabetes, and its complications. Curr Diab Rep 2013;13:298-306
Hartley L, Igbinedion E, Holmes J, Flowers N, Thorogood M, Clarke A, Stranges S, Hooper L, Rees K. Increased consumption of fruit and vegetables for the primary prevention of cardiovascular diseases. Cochrane Database Syst Rev 2013;6:CD009874
Hooper L, Summerbell CD, Thompson R, Sills D, Roberts FG, Moore HJ, Davey Smith G. Reduced or modified dietary fat for preventing cardiovascular disease. Cochrane Database Syst Rev. 2012;5:CD002137
Ioannidis JPA. Implausible results in human nutrition research. Definitive solutions won’t come from another million observational papers or small randomized trials. BMJ 2013;347:6698-6699
Kaluza J, Wolk A, Larsson SC. Red meat consumption and risk of stroke: a meta-analysis of prospective studies. Stroke 2012;43:2556-2560
Knop U. Ernährungsregeln: Wo bleiben die Daten? Novo Argumente, 3.4.2013 (http://www.novo-argumente.com/magazin.php/novo_notizen/artikel/0001328#_edn9, Zugriff am 13.1.2013)
Kotwal S, Jun M, Sullivan D, Perkovic V, Neal B. Omega 3 Fatty acids and cardiovascular outcomes: systematic review and meta-analysis. Circ Cardiovasc Qual Outcomes. 2012;5:808-18
Micha R, Michas G, Mozaffarian D. Unprocessed red and processed meats and risk of coronary artery disease and type 2 diabetes–an updated review of the evidence. Curr Atheroscler Rep 2012;14:515-524
Rizos EC, Ntzani EE, Bika E, Kostapanos MS, Elisaf MS. Association between omega-3 fatty acid supplementation and risk of major cardiovascular disease events: a systematic review and meta-analysis. JAMA 2012;308:1024-1033
Ronksley PE, Brien SE, Turner BJ, Mukamal KJ, Ghali WA. Association of alcohol consumption with selected cardiovascular disease outcomes: a systematic review and meta-analysis. BMJ 2011;342:d671
Wolever TMS. American Diabetes Association evidence-based nutrition principles and recommendations are not based on evidence. Diabetes Care 2002;25:1263-1264

 

nachhaltige ernährung, was ist das?

nachhaltige ernährung, was ist das?


nachhaltige ernährung” steht auf meiner neuen visitenkarte des fibl, meines teilzeitarbeitgebers und träger des projektes schule des essens, an dem derzeit mein berufliches herz hängt. sie beschäftigt mich ja schon seit längerem, seit gut zwei jahren habe ich mich ihr gänzlich verschrieben – die erfahrungen aus zwei jahren mosambik waren daran maßgeblich beteiligt. und derzeit gibt’s einiges an medienpräsenz (z.b. kurier, salzburger nachrichten, handelsblatt und netdoktor) als resonanz eines presseworkshop, den ich kürzlich für meinen berufsverband veö bestritten habe.

viel ist also in meinem leben davon die rede, deshalb auch an dieser stelle eine definition der nachhaltigen ernährung in fünf schritten:

1. nachhaltige ernährung ist kein romantisches vorhaben von realitätsfremden weltverbesserern, sondern eine wissenschaftliche disziplin. sie wurde im deutschsprachigen raum in den 1980er-jahren aus der taufe gehoben von einem studentischen arbeitskreis rund um professor claus leitzmann an der universität gießen (beide, der professor wie die uni sind in einschlägigen kreisen bestens bekannt). die uni gießen hält derzeit auch die einzige professur dafür im deutschsprachigen raum. auch karl von koerber, thomas männle, jürgen kretschmer und in jüngerer zeit ingrid hoffmann, katja schneider und eva hummel prägten und prägen die ernährungsökologie maßgeblich durch forschung, entwicklung und lehre.

2. im wissenschaftssprech wird die disziplin “ernährungsökologie” genannt, wobei ökologie in diesem zusammenhang nicht (nur) was mit umwelt zu tun hat, sondern die “lehre von den zusammenhängen” bedeutet. ich verwende lieber “nachhaltige ernährung”, weil sich der begriff besser selbst erklärt.

3. lehre von den zusammenhängen. ja, derer gibt es in der nachhaltigen ernährunge wahrlich viele! denn sie konzentriert sich nicht wie die “herkömmliche” ernährungswissenschaft auf die gesundheitlichen aspekte des essens, sondern bezieht die dimensionen ökologie, wirtschaft und gesellschaft gleichwertig ein. und das auf allen ebenen, von der landwirtschaftlichen produktion über die verarbeitung, transport, handel, konsum bis zur entsorgung. darüber hinaus ist sie eine disziplinenübergreifende wissenschaft (agrarwissenschaften, soziologie, wirtschaftswissenschaften, gesundheitswissenschaften etc.).
ein beispiel, das die komplexität illustriert: fisch. fetter meeresfisch gilt wegen seines omega-3-fettsäuregehalts als gesund. ökologisch betrachtet sind viele fischbestände ausgebeutet. wirtschaftlich gesehen kämpfen viele kleine fischer neben der industriellen fischerei um ihre existenz, ähnliches gilt für die verarbeitung, z.b. zu konserven. das hat, stichwort gesellschaft, auswirkungen: matosinhos, einst ein prosperierender, lebendiger vorort der portugiesischen stadt porto (und immer noch heimat der nuri-sardinen-fabrik), wirkt heute heruntergekommen und verlassen, die arbeitslosigkeit ist hoch. (eine detaillierte beschreibung des sardinendilemmas, das sich mir im letzten urlaub auftat, steht hier.)

4. nachhaltigkeit in der ernährung ist messbar, und zwar zum beispiel anhand der safa-kriterien der fao, der ernährungs- und landwirstschaftsorganisation der uno. safa steht für sustainability assessment of food and agriculture systems. da wird anhand einer vielzahl von indikatoren die ökologische, wirtschaftliche und soziale nachhaltigkeit von betrieben erhoben. das ergebnis sind spinnendiagramme wie im bild unten, anhand derer die nachhaltigkeitsanalyse auf einen blick möglich ist. wer das z.b. macht, sind meine SMARTen kollegInnen am fibl!

5. und wie setze ich die nachhaltige ernährung in die praxis um? anhand von sieben grundsätzen (nach karl von koerber), die, einmal verinnerlicht, das einkaufen erleichtern (weil sie die auswahl angenehm einschränken) und den genuss erhöhen (weil bewusster essen besser schmeckt).
a) mehr von der pflanze, weniger vom tier
b) bio-lebensmittel
c) regional und saisonal
d) gering verarbeitet, frisch
e) umweltverträglich verpackt und transportiert
f) fair gehandelt
g) genussvoll
warum nachhaltige ernährung weder kompliziert, teuer noch genussfeindlich ist, sowie noch mehr tipps und aha-erlebnisse gibt’s in der veö-presseaussendung.

literatur: hoffmann i, schneider k, leitzmann c. ernährungsökologie – komplexen herausforderungen integrativ begegnen. oekom, 2011

safa_blog
bildnachweis (auch beitragsbild): fao. safa guidelines, 2013, s. 69

 

habe ich eine smoothies-intoleranz?

habe ich eine smoothies-intoleranz?


ich habe meinen standmixer ausgegraben. und mache jetzt auch smoothies damit. meine ersten. überhaupt. außerdem beschäftige ich mich derzeit intensiv mit der evidenz in der ernährungs(gesundheits)forschung und mit wissenschaftlichen grundlagen. das nur als hintergrundwissen, um meine hirnverstrickungen eventuell nachvollziehen zu können.

gestern am abend habe ich zwei mal 200 milliliter apfelmitschale-karotten-pastinaken-kraut-smoothie getrunken. heute früh ein mal 200 milliliter. er bekommt mir nicht. (wie ich das methodisch erhoben habe, erkläre ich gerne auf nachfrage. hier nur so viel: die symptomatik ist jener ähnlich, die laktoseintolerante beschreiben.)

habe ich jetzt also eine smoothies-intoleranz?

ja, das mag platt erscheinen und den platz hier auch gar nicht wert sein. warum ich es trotzdem schreibe: weil genau diese herleitung genauso populär ist, wie sie falsch ist.

ich habe selbstverständlich keine smoothies-intoleranz. ich habe eine ganz normale verdauung. die adäquat auf den akuten ballaststoff-overkill reagiert. und die sich, sollte ich das smoothies-trinken beibehalten, ziemlich sicher daran gewöhnen wird.

an der stelle ein weiterführender lesetipp, wer ihn nicht schon kennt: bauchgrimmen, aus der zeit 48/2013

 

die who, was die alles sagt!

die who, was die alles sagt!


sehr interessant! jetzt kenne ich diese publikation seit zehn jahren. sie ist immer noch ein standardwerk der ernährungsprävention. ich habe sie von vorne nach hinten, und von hinten nach vorne gelesen. konnte ihre tabellen zeitweilig fast auswendig rezitieren. und jetzt erst finde ich auf den seiten 140/141 im kapitel strategic directions and recommendations for policy and research – prerequisites for effective strategies den punkt sustainable development und folgende passage, die ich so bemerkenswert finde, dass ich sie hier wiedergeben möchte. wohlgemerkt, herausgegeben hat den bericht die weltgesundheitsorganisation, und es geht darin um den zusammenhang zwischen ernährung und chronischen krankheiten!

“The rapid increase in the consumption of animal-based foods, many of which are produced by intensive methods is likely to have a number of profound consequences. On the health side, increased consumption of animal products has led to higher intakes of saturated fats, which in conjunction with tobacco use, threatens to undermine the health gains made by reducing infectious diseases, in particular in the countries undergoing rapid economic and nutrition transition. Intensive cattle production also threatens the world’s ability to feed its poorest people, who typically have very limited access to even basic foods. Environmental concerns abound too; intensive methods of animal rearing exert greater environmental pressures than traditional animal husbandry, largely because of the low efficiency in feed conversion and high water needs of cattle.

Intensive methods of livestock production may well provide much needed income opportunities, but this is often at the expense of the farmers’ capacity to produce their own food. In contrast, the production of more diverse foods, in particular fruits, vegetables and legumes, may have a dual benefit in not only improving access to healthy foods but also in providing an alternative source of income for the farmer. This is further promoted if farmers can market their products directly to consumers, and thereby receive a greater proportion of final price. This model of food production can yield potent health benefits to both producers and consumers, and simultaneously reduce environmental pressures on water and land resources.

Agricultural policies in several countries often respond primarily to short-term commercial farming concerns rather than be guided by health and environmental considerations. For example, farm subsidies for beef and dairy production had good justification in the past – they provided improved access to high quality proteins but today contribute to human consumption patterns that may aggravate the burden of nutrition related chronic disease. This apparent disregard for the health consequences and environmental sustainability of present agricultural production, limits the potential for change in agricultural policies and food production, and at some point may lead to a conflict between meeting population nutrient intake goals and sustaining the demand for beef associated with the existing patterns of consumption. For example, if we project the consumption of beef in industrialized countries to the population of developing countries, the supply of grains for human consumption may be limited, specially for low-income groups.

Changes in agricultural policies which give producers an opportunity to adapt to new demands, increase awareness and empower communites to better address health and environmental consequences of present consumption patterns will be needed in the future. Integrated strategies aimed at increasing the responsiveness of governments to health and environmental concerns of the community will also be required. The question of how the world’s food supply can be managed so as to sustain the demands made by population-size adjustments in diet is a topic for continued dialogue by multiple stake-holders that has major consequences for agricultural and environmental policies, as well as for world food trade.”

aus: WHO (Hrsg.). Joint WHO/FAO expert consultation: Diet, Nutrition and the Prevention of Chronic Diseases (Technical Report Series 916). Geneva, 2003 (Download)

das hat die milch nicht verdient!

das hat die milch nicht verdient!


die milch verfolgt mich! ja, ich beschäftige mich derzeit viel damit, aber sie läuft mir auch nach. zum beispiel via facebook-postings, die teils fragend, teils provozierend an mich herangetragen werden. wie dieser beitrag in den deutschen wirtschafts nachrichten vom 28.10.2013 mit dem titel “harvard: milch von der kuh ist nicht gesund“.
ich habe mir gestern die zeit genommen, den artikel und vor allem auch die darin zitierte “studie der harvard university” ganz genau anzuschauen. es interessiert mich ja auch beruflich, und es ist nie ausgeschlossen, dass es wissenschaftliche neuigkeiten gibt, die mir entgangen sind.

der artikel ist, wie es mein geübtes auge schon beim ersten überfliegen vermutet hatte, vor allem eines: schlecht gemacht und dumm! ob absichtlich oder aus mangeldem journalistischen können kann ich nicht beurteilen, tatsache ist, dass vollkommen willkürlich und einseitig (aus sensationsgeilheit?) die kontra-argumente herausgepickt wurden.
die “studie der harvard university” ist auch gar keine studie, sondern eine übersicht über den derzeitigen informationsstand zum thema osteoporose – und noch dazu eine gute, weil ausgewogene, differenzierte. sie spart nicht mit kritik am milchkonsum bzw. den gängigen empfehlungen dafür (soweit berechtigt, weil wissenschaftlich untermauert) lässt aber auch die wissenschaftlich untermauerten pro-argumente nicht unter den tisch fallen. der am häufigsten gebrauchte satz – und zwar in der pro- wie in der kontra-argumentation – ist: “more research is needed”.

den pro-gegen-kontra-milch-kampf legen die autorInnen übrigens gleich zu beginn bei: “Which view is right? The final answers aren’t in.” das – und nur das! – ist der wissenschaftlich korrekte blick auf die empfehlungen zum milchkonsum! es ist nicht nur dumm, sondern auch eine frechheit und bisweilen sogar gefährlich, wenn die medien ihrem auftrag, ordentlich zu recherchieren, differenziert zu berichten und objektiv zu informieren, nicht gerecht werden!!!